Gesundheitskosten - Zückerchen für die Schlanken |
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24.06.2004, Helsana will dem Bund verursachergerechte Tarife vorschlagen Fettleibigkeit und Rauchen kosten die Krankenkassen jährlich weit über 4 Milliarden Franken.
«Völlig unsozial», wetterte Sozialversicherungs-Chef Otto Piller, als die Krankenversicherung Helsana ihm vor einigen Jahren die Einführung von verursachergerechten Prämien für die Grundversicherung vorschlug. Die Idee der mit einer Million Versicherten grössten Kasse: Wer sich gesund ernährt, sich bewegt und nicht raucht, soll weniger Prämien bezahlen. Rund zwei Drittel der Bevölkerung würden entweder als Nichtraucher oder Normalgewichtige von diesem Bonus profitieren. Die Massnahme würde sich doppelt positiv auswirken: Belohnt würden nicht nur jene, die der Krankenkasse weniger Kosten verursachen, sondern es wäre gleichzeitig auch ein Anreiz für Raucher und Übergewichtige, ihr Verhalten zu ändern. Denn der Bonus würde bei diesen im Gegenzug eine Prämiensteigerung auslösen. Die Umverteilung der Kosten würde sich auf das allgemeine Prämienniveau dämpfend auswirken.
Der Chefbeamte von Bundesrätin Ruth Dreifuss sah das damals anders als die Helsana. Er glaubte, die Explosion der Gesundheitskosten und der Krankenkassenprämien seien auch ohne einschneidende Massnahmen unter Kontrolle zu bringen. Piller hatte sich getäuscht. Die Kosten des Gesundheitswesen belaufen sich inzwischen auf rund 50 Milliarden Franken. Und damit steigen auch die Krankenkassenprämien Jahr für Jahr. Deshalb will die Helsana ihren Vorschlag nächstens wieder aufs Tapet bringen, wie ihr Sprecher Christian Beusch bestätigt. Die Krankenversicherung wird darum erneut eine Eisbrecherfunktion übernehmen müssen. Der Krankenkassenverband will das politisch heisse Eisen nicht anfassen. Santésuisse-Sprecher Peter Marbet muss jedoch zugeben: «Fast alle Ökonomen treten für risikogerechte und verursachergerechte Prämien ein.» Noch offen ist, wie Hans Heinrich Brunner, der ab Anfang Juli in Bundesrat Pascal Couchepins Departement für die Krankenversicherung verantwortlich ist, den Vorschlag der Helsana aufnehmen wird. Der ehemalige FMH-Präsident möchte noch nicht Stellung beziehen.
Aber Couchepin erwartet von Brunner neue Ideen. Der Kostenanstieg im Gesundheitswesen kann nicht nur auf die hohe Ärztedichte, die teure Hightechmedizin und die zunehmende Anspruchshaltung der Versicherten zurückgeführt werden. Die Gründe liegen auch in der Lebensweise eines Teils der Versicherten. Je ein Drittel der Schweizer und Schweizerinnen raucht und ist übergewichtig infolge falscher Ernährung und Bewegungsmangels. Die Zusatzkosten dieser beiden Hochrisikogruppen wird von den anderen Versicherten mitgetragen. Für Michael Zimmermann vom Labor für Humanernährung der ETH Zürich ist die zunehmende Fettleibigkeit nicht einfach Schicksal. Bei einem Überkonsum von gesättigten Fetten und von zu viel Salz und Zucker bei gleichzeitiger körperlicher Inaktivität streikt fast jeder Organismus. Der eine früher und der andere später, je nach Veranlagung.
In der Schweiz ist jedes fünfte Kind übergewichtig Als eigentliche Epidemie bezeichnet inzwischen die Weltgesundheitsorganisation WHO die global zunehmende Fettleibigkeit. Es ist aber eine Epidemie, gegen die der Einzelne vorsorglich etwas unternehmen kann. In der Schweiz müssen zwar in den Spitälern noch nicht Spezialbetten und Hebevorrichtungen für schwer übergewichtige Patienten bereitgestellt werden, wie dies in den USA der Fall ist. Wenn der Trend jedoch so weitergeht, wird auch dies bei uns Realität sein. Bereits ist jedes fünfte Kind übergewichtig. Die Zahl hat sich in zwanzig Jahren verdreifacht. Auf Grund der Zahlen der WHO schätzt das Bundesamt für Gesundheit die direkten Kosten der Fettleibigkeit auf rund 3 Milliarden Franken. Rechnet man die Kosten aller ernährungsbedingten Krankheiten zusammen, gelangt man gar auf 13 Milliarden Franken, was einem Drittel der gesamten Gesundheitskosten entspricht. Würde man mit dem Betrag von 3 Milliarden Franken konservativ rechnen, könnten die Kassen durch eine solche Umverteilung jedem der rund 5 Millionen Normalgewichtige jährlich einen Bonus von 600 Franken ausrichten. Denn diese Versicherten vermindern durch ihre gesunde Lebensweise ihre Krankheitsrisiken und schonen damit die Finanzen der Kassen.
Zusatzversicherungen lehnen Übergewichtige ab Die Liste der durch Übergewicht verursachten Krankheiten ist lang. Sie reicht vom erhöhten Blutdruck als Risikofaktor für Herzinfarkt über Zuckerkrankheit und Krebs bis hin zu psychischen Leiden. Ab einem Body-Mass-Index von 25 (siehe Tabelle) nehmen die Risiken drastisch zu. Mit der Erhöhung um eine Einheit (was ungefähr 3 Kilogramm entspricht) steigt die Wahrscheinlichkeit einer Herzkrankheit um 5 bis 7 Prozent. Deshalb wollen inzwischen beim Abschluss einer Zusatzversicherung die meisten Krankenkassen wissen, wie schwer der Antragsteller ist. Hier allerdings mit bedenklichen Folgen: Fast alle lehnen Übergewichtige im Überobligatorium ab. Diese Entwicklung ist auch den Rückversicherern nicht entgangen. So hat die Swiss Re kürzlich an die Lebensversicherer appelliert, diesem Fakt nicht nur bei der Wahl der Risiken, sondern auch bei der Prämiengestaltung vermehrt Beachtung zu schenken. Die Fettleibigkeit ist von allen beeinflussbaren Risikofaktoren jene, die kostenmässig am meisten ins Gewicht fällt. Aber auch das Rauchen verursacht direkte Gesundheitskosten von etwa 1,2 Milliarden Franken, wie der Neuenburger Ökonom Claude Jeanrenaud für 1995 errechnet hat. Auf Grund der Teuerung entspricht das heute einem Betrag von rund 1,5 Milliarden Franken. Im Gegensatz zum Fettleibigen trägt der Raucher gemäss Jeanrenaud seine direkten und indirekten Kosten, die er der Gesellschaft verursacht, in Form von Steuern usw. weit gehend selber.
Was Jeanrenaud jedoch in seiner Studie nicht sagt: Der Raucher zahlt seine Steuern an die falsche Stelle. Die Tabaksteuer hat ihren ursprünglichen Präventionscharakter verloren. Sie ist zu einer reinen Finanzquelle für den Bundesbeitrag an die AHV geworden. Der grösste Teil dieser Steuer von derzeit 1,8 Milliarden Franken geht in die Altersvorsorge statt ins Gesundheitswesen. Das Geld der Tabakkonsumenten müsste aber vielmehr in die Krankenversicherung fliessen. Dann könnten die Kassen nicht nur den Normalgewichtigen, sondern auch den Nichtrauchern einen Bonus ausrichten. Auf rund 5 Millionen Nichtraucher gerechnet wären es immerhin pro Jahr für jeden dieser Versicherten rund 300 Franken. Das wäre eine echte Tabakprävention.
Sollen Raucher und Dicke zahlen? "Hier wird das Prinzip der Solidarität pervertiert." PRO: Jürg Wegelin Risikogerechte Prämien für die obligatorische Krankenversicherung fordern Ökonomen wie der Zürcher Professor Peter Zweifel. Diese Sozialversicherung basiert jedoch auf dem Prinzip der Solidarität. Deshalb ist es richtig, dass Frauen trotz höherer Kosten gleich hohe Prämien zahlen wie die Männer. Es würde zudem dem Grundsatz der Gleichheit der Geschlechter widersprechen, wenn die Kosten von Schwangerschaften allein von den Frauen getragen werden müssten. Dort wo der Versicherte die Höhe seiner Gesundheitskosten selber beeinflussen kann, soll er jedoch mit finanziellen Anreizen zu einem entsprechenden Verhalten motiviert werden. Wer raucht oder mehr isst, als er verdauen kann, und dazu noch ein Bewegungsmuffel ist, soll zur Kasse gebeten werden. Es kann von der Mehrheit der Versicherten nicht erwartet werden, dass sie die finanziellen Konsequenzen dieser kostspieligen Lebensweise mittragen muss. Das hat nichts mehr mit Solidarität zu tun. Im Gegenteil: Wenn wir die explodierenden Gesundheitskosten nicht unter Kontrolle kriegen, droht dieser der obligatorischen Krankenversicherung zu Grunde liegende Grundsatz vor die Hunde zu gehen. Die Diskussion über Massnahmen zur Kostendämpfung nimmt bereits jetzt immer fragwürdigere Züge an. So kämpft der Präsident der Ärztevereinigung FMH, Hans Heinrich Brunner, für eine Rationierung im Gesundheitswesen. In seinen Augen sollen gewissen Patienten bestimmte therapeutisch nützliche Leistungen verweigert werden können. Brunner, der Anfang Juli die Verantwortung für die Krankenversicherung übernimmt, fordert von der Politik entsprechende Kriterien, damit die Ärzte am Spitalbett ohne Gewissensbisse den Daumen nach unten oder nach oben richten können. Bevor zu derart drastischen Massnahmen gegriffen wird, müssen alle anderen sinnvollen Möglichkeiten zur Kostendämpfung ausgeschöpft werden.
"Die selbstgefällige Entrüstung der schlanken Nichtraucher ist unsinnig." KONTRA: Philippe Löpfe Wer heute Intoleranz in Reinkultur erleben will, googelt am besten im Internet unter den Stichwörtern «Raucher» oder «Dicke». Unverfälschter Hass und blanke Diskriminierung schlagen ihm entgegen von Menschen, die sich sonst politisch korrekt für die Anliegen und Rechte von ethnischen Minderheiten und sexuellen Vorlieben einsetzen. Doch wenn es ums Rauchen oder um Übergewicht geht, ist Schluss mit lustig in Sachen multikultureller Toleranz. Da wird aus allen Rohren auf alles geschossen, was raucht oder isst.
Die selbstgefällige Entrüstung der schlanken Nichtraucher ist in vieler Hinsicht unsinnig. Am Arbeitsplatz und im öffentlichen Leben ist man heute weit gehend vor unerwünschtem Qualm geschützt. Den langjährigen Abnützungskrieg gegen die Raucher haben die Nichtraucher gewonnen. Absolut zur Recht im Übrigen. Von übergewichtigen Menschen andererseits kann sich niemand wirklich belästigt fühlen. Die Diskriminierung zeigt hier hässliche, ja geradezu faschistoide Züge.
Höhere Krankenkassenprämien für Raucher und Dicke sind fragwürdige Massnahmen. Erstens gehört ein dicker Raucher statistisch gesehen einer sozial benachteiligten Schicht an und erhält schon heute Subventionen für seine Krankenkassenprämie. Zweitens würde mit einer solchen Massnahme eine endlose Diskussion eröffnet: Wenn Raucher und Dicke mehr bezahlen müssen, warum nicht auch Risikosportler oder Abenteuertouristen? Es gibt keinen «vernünftigen» Grund für das Rauchen, wahrscheinlich auch keinen für Übergewicht. Doch eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder auch im Privatleben zur Vernunft zwingen will, wird selbst unvernünftig, ja unheimlich. Wer das nicht glaubt, klicke sich in einen Nichtraucher-Chatroom ein. Die Intoleranz und der Hass, die einem dort entgegenschlagen, sind widerlich. Widerlicher als die abgestandenste Luft in einem SBB- Raucherabteil.
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